Freitag, 24. Dezember 2021


Ein Heiliger Abend

 

Festus wischte wohl schon zum zehnten Mal mit seinem gelben Tuch über die spiegelblanke Oberfläche des Tresens. Dabei sah er mich mit einem Blick an, der an jedem anderen Tag genug Aufforderung für mich gewesen wäre, endlich zu gehen.

Aber heute ... Gehen? Wohin?

Im Spiegel hinter ihm sah ich, dass außer mir nur noch zwei andere Kerle da waren. Sie saßen an einem der Tische und spielten Karten. Wenn ich ging, würde Festus die beiden anderen schon irgendwie raus bringen und hinter ihnen zusperren.

Im Augenblick genoss ich das Privileg des Stammgastes, bleiben zu dürfen, so lange es mir passte.

Ich war vor ein paar Monaten hierher gezogen. Denen zu Hause hatte ich klargemacht, dass ich zur Entwicklung meiner Persönlichkeit den Blick über ‘n Zaun brauchte. Ich musste weg aus der Enge meines Heimatortes. Ich hatte den gleichförmigen Rhythmus jener Stadt und seiner Bewohner satt. Ich konnte den Geruch der Provinz nicht mehr riechen. Ich hasste die Borniertheit seiner Bewohner. Ich erstickte an der unverhältnismäßigen Gründlichkeit, die sie selbst in Banalitäten an den Tag legten.

In meiner neuen Umgebung hatte ich mich sofort eingelebt. Nichts von dem, was ich verlassen hatte, holte mich ein. Wenn man davon absah, dass es auch hier eine gewisse Regelmäßigkeit gab, die zwangsweise durch meine Tätigkeit in einem der kleinen Betriebe in der Stadt zustande kam.

Borniertheit dagegen schien hier ein Fremdwort zu sein.

Und so war dieser Tag gekommen, ohne dass ich besonders auf die fortschreitende Jahreszeit geachtet hatte. Weihnachten kommt immer so plötzlich.

Haha. Wie komisch. Na ja. Die Leute halt.

Tagsüber hatte ich eingekauft wie an jedem anderen Freitag auch, und jetzt saß ich bei Festus in der Kneipe. Zusammen mit den beiden Jungs, die hinter mir gerade ihr Kartenspiel vom Tisch strichen.

Ich hörte, wie sie ein paar Münzen auf die Platte warfen. Im Spiegel beobachtete ich, wie sie sich ihre Jacken umhängten und mit einem gemurmelten Gruß das Lokal verließen.

„He Dicker, willst du nicht auch nach Hause?“ Festus legte seine Riesenpranke auf meine Hand.

„Wie lange hast du offen?“

Festus nahm seine Hand von meiner und schaute mich müde an.

„Junge, heute ist Heiliger Abend.“

Ich wusste das. Aber ich wollte es nicht verstehen. Verdammt und zugenäht.

Da sah ich im Spiegel, wie sich die Tür hinter einer jungen Frau schloss, die gerade eingetreten war. Jetzt stand sie einfach nur da und schaute zu uns herüber.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Festus den Kopf ein wenig anhob, das Kinn in ihre Richtung reckte. Ich spürte seine Verstimmung.

Das Mädchen stand noch immer unschlüssig mitten im Raum.

„Bis achtzehn Uhr“, brummte Festus in ihre Richtung.

Sie nickte, nahm ihre weiße Mütze ab und klopfte sie gegen ihren dunkelblauen Mantel, dass ein feiner, heller Regen nach allen Seiten sprühte.

„Es schneit“, sagte das Mädchen.

Es klang, als läge in ihren Worten die Wahrheit der Welt.

„Schön“, sagte Festus feierlich. „Heiliger Abend mit Schnee.“

Ich sagte nichts. Mir war das egal. Weihnachten mit oder ohne Schnee. Worin liegt der Unterschied?

Sie setzte sich neben mich an den Tresen und bestellte ein Bier. Dann schaute sie mich an und fragte:

„Welches Lokal hat denn hier in der Nähe noch länger offen?“

Bevor ich antworten konnte, sagte Festus: „Vielleicht schauen Sie mal bei Lu vorbei.“

„Das ist ein fürchterlicher Bums“, hörte ich mich sagen.

„Du kennst dich da aus, was?“ Festus versuchte, heiter zu klingen. Für mich klang es andes.

„Scheiße mit Weihnachten“, sagte die junge Frau neben mir.

Ich betrachtete sie von der Seite. Sie spielte mit ihrem Bierfilz und war völlig in Gedanken versunken. Sie mochte Anfang zwanzig sein. Älter nicht. Sie hatte braune, schulterlange Haare mit Wellen, die von ihrer Mütze etwas zerdrückt waren. Außerdem hatte sie noch immer diesen dunkelblauen Mantel an und weiße Stiefel.

Ich überlegte mir gerade, ob sie Kontaktlinsen trug, weil ihre Augen einen seltsamen Glanz hatten, als sie sich nach mir umwandte.

„Finden Sie nicht auch?“

„Was?“

„Scheiße mit Weihnachten.“

„Na ja ...“

„Frieden auf Erden.“ Die zerdrückten Wellen tanzten um ihren Kopf. „Wo denn, frage ich Sie, wo ist auf dieser Erde wirklich Frieden?“

Ich wusste es auch nicht.

„Und Liebe! Ich frage Sie: Wer liebt denn schon einen anderen, weil der ist, der er ist? Wer tut schon irgendwas ohne Vorteil für sich selbst?“

Auch darauf wusste ich keine Antwort.

„Dann dieses Getue mit Geschenken. Dahinter steckt ja auch nicht gerade nur Nächstenliebe!“

Ich nickte zustimmend. Reiner Kommerz.

Seufzend schaute ich in ihre Augen und sah das alles vor mir. Der Heilige Abend, Weihnachten – für die meisten doch bloß ein Kalendertag. Sie prügelten weiterhin, wen sie nicht mochten, sie schossen aufeinander, weil sie Feinde waren, sie fanden genug Ausreden für Hass und kein Argument für Liebe.

Ich sah Politiker, die ihre Lügen zusammenlächelten. Industriebosse, die ihre Hände in von ihnen versauten Flüssen reinwuschen. Menschen, denen nichts am Frieden auf Erden lag weil sie am Krieg verdienten. Menschen, die ihr Konto und nicht das Wohl der Welt im Auge hatten. Menschen, die nach Hass gierten, weil ihnen niemand gezeigt hat, wie viel ein freundliches Wort bedeuten kann.

Ich sah Menschen, die Liebe kauften und verkauften. Zu einem Preis, der viel zu hoch war. Menschen, die Liebe sagten und eigene Interessen meinten.

Und die Geschenke. Was hatten diese Geschenke mit Liebe und Frieden zu tun? Finster dreinblickende Plastik-Monster in noch mieseren Plastik-Welten. Wo sie hergestellt werden, gibt es dieses Fest nicht. Kriegsspielzeug der raffiniertesten Art. Wer sie bekommt, kann keinen Frieden bei sich einziehen lassen. Spiele um Geld und Gesundheit und Leben. Wertvolle Pelze. Wertvolle Steine. Tauschware für Liebe?

Fest der Liebe.

Fest des Friedens.

„Was meinen Sie?“, fragte die junge Frau neben mir. Ihr Blick ruhte noch immer auf meinem Gesicht.

„Sie haben recht. Scheiße mit Weihnachten.“ Ich starrte vor mich hin. „Nicht einmal mehr die Kinder ...“

Ich sah das Elend, das die Welt ihren Kindern beschert, bis mir alles vor den Augen verschwamm.

Eines der Kinder war ich einmal gewesen.

Das war lange her.

„Hier“, sagte sie und reichte mir ein Papiertaschentuch.

„Alles nur aufgesetzt“, sagte ich in das Papiertaschentuch hinein. „Alles nur Theater. Nicht nur mit Weihnachten. Du weißt nicht einmal mehr, was deine Freunde denken. Die sagen dir aus lauter Bequemlichkeit auch bloß, was du hören willst. So ist es doch, oder?“

„Was hast du denn für Freunde?“, fragte sie stirnrunzelnd.

„Ich meine ja nur“, gab ich unwirsch zurück. Sie hatte mich erwischt.

„Ich“, sagte Festus. „Ich sage dir, was du nicht hören willst. Egal, ob du mein Freund bist oder nicht. Es ist achtzehn Uhr. Ich will hier zumachen. Weil mir nämlich Weihnachten gefällt. Ich will noch mit meiner Familie feiern.“

Ich bezahlte meine Getränke und griff nach meinem Mantel. Dann ging ich, ohne mich umzudrehen. Er wollte eben noch ein bisschen feiern. Natürlich. Schließlich war Weihnachten.

Frohes Fest!

 

Sie ging neben mir. Mir fiel Weihnachten daheim ein. Mutter, wie sie immer tagelang versucht hatte, so etwas wie Feierlichkeit aufkommen zu lassen. Aber wir hatten wohl keinen Sinn dafür. Nur sie merkte es nicht. Sie aß vor ihrem lächerlichen Kerzchen und aß ihre selbst gebackenen Plätzchen, die viel zu hart waren.

Und Heiligabend war sie absolut die einzige, der was an Sentimentalitäten lag. Weihnachtslieder – achduliebezeit wie antiquiert.

Dann dieser ewige Zirkus um das abendliche Programm. Kochen, baden, anziehen, Tisch decken, essen, Bescherung. Diese Reihenfolge. Nicht zu vergessen der Kirchgang um Mitternacht. Seit Jahren ohne den Schnee, den Mutter sich immer unter den Sohlen wünschte, wenn sie zur Kirche ging. Ging! Auch wenn es regnete oder einfach gar kein Wetter gab.

Und der Baum. Der Baum, den sie seit Jahren noch immer genauso schmückte wie Vater, als er das zum letzten Mal vor seinem Tod gemacht hatte. Als wenn das etwas zu bedeuten hätte.

Uns.

Ihr auf jeden Fall.

„Gehen wir noch zu Lu?“, fragte das Mädchen vor mir.

„Das ist doch nur was für Männer“, antwortete ich.

Sie war stehen geblieben. Ich merkte es erst nach ein paar Schritten, weil ich den Kopf gegen den Wind gestemmt hatte, der mir Schnee ins Gesicht trieb.

Schnee!

„Wohin gehst du jetzt?“, fragte sie halb hoffnungsvoll, halb ängstlich.

„Ich weiß es nicht.“ Das stimmte auffallend. Ich wusste es wirklich nicht. Ich ärgerte mich darüber.

„Du kannst ja zu Lu gehen, du bist immerhin ein Mann. Ich nicht.“

Sie kam langsam wieder zurück und schaute mich mit diesem Blick an, mit dem sie mich schon von Anfang an betrachtet hatte. Mit Augen, die ich nie vergessen werde. Sie wirkten dunkel hier draußen. Alles lag in ihnen, was mich an diesem Abend bekümmerte.

Bekümmerte! Mich! Wo ich mich doch um diesen Abend überhaupt nicht kümmern wollte.

Aber da stand es alles genau vor mir. In ihren Augen. Ungerechtigkeit, Leid, Missverständnisse. Lieblosigkeiten, Gemeinheiten, Heucheleien, Schmerz, Trauer. Eben alles, was mich so an diesen Heiligen Abenden verzweifeln ließ, die kein Bisschen was von Heiligkeit hatten.

„Warum gehst du nicht einfach nach Hause?“, fragte ich sie.

Ihr Blick hatte meine Seele geöffnet. Ich wollte aber nicht hineinsehen.

„Null Bock“, gab sie zurück, und Trotz stand auf ihrem Gesicht.

Wieder dachte ich an zu Hause und glaubte, sie zu verstehen.

Sie ging langsam weiter, und ich folgte ihr.

Einen Augenblick lang dachte ich: Ich möchte die ganze Nacht so verbringen. Hinter ihr herlaufen und nicht darüber nachdenken, wohin. Nicht allein sein. Wissen, da vorne geht sie. Wird schon wissen, wohin. Wird wissen, dass ich hinter ihr gehe. Wird wissen, dass ich froh bin, wenn sie vor mir geht. Dass sie vor mir geht.

Der Schnee fiel dichter und dichter. Ich ging, indem ich einfach in ihre Fußspuren trat. Mutter fiel mir ein, als ich den Schnee unter meinen Sohlen knirschen hörte.

Ich hätte das Mädchen fast umgerannt, als es plötzlich erneut stehen blieb.

„Geh du mal voraus.“

Ich schaute sie erstaunt an. Auch gut. Ich vorne draus, sie hinterdrein. Ich zog die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und ging weiter. Der Schnee aus der Kapuze schmolz in meinem Nacken. Das Mädchen redete hinter mir, aber ich konnte sie nicht verstehen. Das war auch nicht wichtig. Für mich war es einfach ein gutes Gefühl, dass sie da war.

Plötzlich tippte sie mir auf die Schulter.

„He, hast du eine Ahnung, wo wir hier sind?“

Ich schaute mich um.

„Nee, bin selber fremd hier.“

„Aha.“ Sie stand und schaute. „Scheiße.“

„Wo ist das Problem?“

Sie lachte. Lachte laut und hell, und ihr Lachen wirkte ansteckend auf mich. Ich lachte mit, bis mir die Lungen vor Kälte wehtaten.

„Mensch Alter. Läufst hier rum und weißt noch nicht mal, wo du bist.“

„Weißt du’s denn?“ fragte ich gereizt zurück.

„Ach, leck’ mich doch.“

Wir schauten uns um. Kein Auto mehr weit und breit, kein Mensch unterwegs.

Der Schnee deckte alles zu. Sogar unsere Fußspuren waren zugeweht.

Kein Woher, kein Wohin.

„Ich habe dich nicht gebeten, mitzukommen.“

Wieder traf mich dieser Blick.

Hinter ihrer gekräuselten Stirn sah ich plötzlich die kleinen Bildchen vor mir, die ich als kleiner Junge jeden Sonntag in der Kinderkirche geschenkt bekommen hatte. Neujahr gab’s ein Heft dazu, in das ich sie sauber einklebte. Sie gehörten zu Bibelstellen, die man uns erzählt hatte. Eines der Bildchen hatte ich sorgfältig ausgemalt, weil es mir so gut gefallen hatte. Da waren zwei Männer drauf, die sich gegenüberstanden. Folge mir nach, stand darunter.

Den einen der Männer hatte ich mit einem blauen, den anderen mit einem braunen Umhang gemalt. Die einfachen, klaren Gesichtszüge des Mannes mit dem blauen Umhang hatten mich wochenlang fasziniert. Sie waren so entschlossen und strahlten dabei eine Ruhe aus, dass ich das Bildchen lange Zeit mit mir herumtrug. Als ich es in mein Heft klebte, war es vollkommen zerknittert.

Jetzt fiel mir auch die Geschichte zu dem Bildchen wieder ein.

„Okay, Alter, was jetzt?“, fragte sie mich in diesem Augenblick. Ich wurde zornig. Ich war kein alter Mann, ich war gerade mal dreißig!

„Keine Ahnung.“ Ich stand da und begann zu frieren. „Gehen wir zur nächsten Kreuzung und dann die Hauptstraße hinunter.“

Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging wieder voraus. Es war wie vorher, und ich fühlte mich wieder gut. Alles war gut. Ich war nicht allein. Jemand ging vor mir.

Folge mir nach.

An der Kreuzung blieb sie einen Moment lang zögernd stehen. Dann ging sie weiter, ohne sich um mich zu kümmern. Ich setzte einen Fuß nach dem anderen in die Spuren ihrer weißen Stiefel. Wir stiegen ein paar Stufen hinauf, und sie öffnete eine Tür. Ich schaute auf: Es war ein Kirchenportal.

„He, das ist eine Kirche!“, flüsterte ich.

„Na und?“, flüsterte sie zurück. „Es ist die einzige offene Tür weit und breit, und mir ist saukalt.“

„Da ist aber keiner“, fauchte ich sie an.

„Wen willst du denn alles hier haben?“, zischte sie über die Schulter zurück.

Ich sagte nichts mehr. Mir war ja auch kalt. Deshalb trat ich schließlich ebenfalls ein.

Es handelte sich um eine stinknormale Kirche ohne Pomp und Gloria. Vorne der Altar, dahinter die schmucklosen Bankreihen. Keine Gemälde an der Wand, keine barocken Heiligenfiguren. Zur Feier des Tages rechts neben dem Altar ein Weihnachtsbaum. Strohsterne und elektrische Lichter, die bereits brannten. Das einzige Licht hier drin, aber es reichte aus.

Sie holte eine Kerze und zündete sie an.

„Das wärmt ein bisschen“, sagte sie, legte eine Hand um die Flamme und setzte sich in eine der leeren Bänke.

Also nahm ich mir auch eine Kerze, zündete sie ebenfalls an und setzte mich neben diesen sonderbaren Menschen.

„Ist das eine katholische oder eine evangelische Kirche?“, wollte ich wissen.

„Es ist eine Kirche“, sagte sie.

„Wie originell.“

„Wenn du meinst?“

„Ich meine.“

„Hast du was für die Kerze bezahlt?“, fragte sie nach einer Pause.

„Nö.“

„Ich auch nicht.“

Sie grinste.

Da saßen wir am Heiligen Abend in irgendeiner leeren Kirche. Zwei vollkommen Fremde, ohne Berührungspunkte, ohne gemeinsames Ziel.

Oder doch?

Folge mir nach.

„Was sagst du?“

Hatte ich laut gedacht?

„Das ist also Weihnachten“, murmelte ich vor mich hin.

„Nee“, sagte sie und zeigte nach vorne. „Das dort.“

Ich schaute auch. Zunächst sah ich überhaupt nichts. Ach so, ja, die Krippe.

„Glaubst du, dass es wirklich so kalt war, als er geboren wurde?“ Ich fragte nicht aus wirklichem Interesse. Ihre Antwort hatte mich nur irritiert und ich brauchte ein wenig Zeit, sie einzuordnen.

Sie starrte in das Licht ihrer dünnen Kerze und drückte vorsichtig etwas Wachs um den Docht fest. „Soll ziemlich kalt sein nachts in der Gegend dort. Aber so kalt wie hier? Ich weiß es nicht. Schneien wird es da aber garantiert nicht.“

„Wer sagt eigentlich, dass er gerade an einem 24. Dezember geboren wurde?“

„Das haben die sich doch nur so ausgedacht mit dem Zeitpunkt, Mann. Es passte besser zu den heidnischen Bräuchen damals“, flüsterte sie, ohne von ihrer Kerze aufzusehen.

„Heidnische Bräuche?“

„Ja, Wintersonnwende. Die wollten ...“

„Die?“, fragte ich verständnislos.

„Die das alles eingeführt haben. Die ganzen christlichen Feste und so.“

„Aha.“

Ich hätte schon gern wissen wollen, wer ‚die’ waren. Ich hatte mir nie Gedanken um solche Dinge gemacht. War schon so lange her mit der Kinderkirche und den Bildchen für mein Album. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es mir erklären wollte. Also saß ich da und schaute nirgendwohin. Wenigstens fror ich nicht mehr.

„Das ist überhaupt der einzige Platz, wo’s ein bisschen weihnachtlich ist“, sagte sie nach einer Weile.

Ausgerechnet sie.

„Man hört nichts von draußen“, meinte ich, weil die Stille in meinen Ohren wehtat. Außerdem war ein merkwürdiges Gefühl in mir hoch gekrochen, das sich zu formulieren begann. „Man sitzt nur einfach da, lässt alles vor der Tür zurück und denkt nach.“

„Nur du redest ununterbrochen“, sagte sie neben mir.

„Du vielleicht nicht? Entschuldige, aber du wolltest hier rein.“

„Du hättest nicht mitzukommen brauchen.“

„Na hör’ mal!“ Ich erschrak, weil meine Stimme in diesem Raum wie Donner klang. Ich schaute bestürzt zum Altarraum. Hatte sich dort nicht etwas bewegt?

Sie wandte sich zu mir um und berührte mit dem Zeigefinger meinen Mantelärmel.

„Bist ’n feiner Pinkel, was? Kaschmir.“ Sie schnalzte mit der Zunge.

„Na und, ist das wichtig?“ Warum war ich nur so gereizt?

„Was ist überhaupt wichtig?“, sinnierte sie und Kerzenwachs tropfte zuerst auf meinen Ärmel, dann auf meine Hand.

„Au, das ist heiß.“

„Entschuldige.“

„Ich gehe jetzt“, sagte ich und stand auf.

„Ich auch.“

Sie blies ihre Kerze aus und legte sie dorthin zurück, wo sie sie weggenommen hatte. Ich tat es ihr gleich. Bevor wir wieder hinausgingen, drehte sie sich zu mir um und sagte:

„Schön, dass ich dich getroffen habe. Allein ist Weihnachten einfach beschissen. Noch heftiger ist, diesen Abend mit Menschen zu verbringen, die nicht wissen, warum sie ihn feiern.“

Damit schlüpfte sie zum Portal hinaus. Ich stand einen Augenblick lang betroffen da. Schaute zum Altarraum mit dem Weihnachtsbaum und der Krippe hinter mir. Dann warf ich ein paar Münzen in den Opferstock. Für die angebrannten Kerzen. Ich öffnete das Portal und trat hinaus.

Der Wind blies mir scharf ins Gesicht. Er hatte alle Spuren im Schnee verwischt. Meine Begleiterin war nirgends mehr zu sehen.

„Da ist ein bisschen Wachs auf Ihren Ärmel getropft.“ Die alte Dame neben mir sah mich freundlich an. „Das geht mit Bügeln wieder raus. Sie müssen nur eine Zeitung ...“

Das hatte mir meine Mutter auch mal gesagt, als Kerzenwachs auf mein neues Jackett getropft war. Ihr Weihnachtsgeschenk für mich damals.

Ich nickte der alten Dame zu und wandte mich zum Gehen.

Wenn ich mich beeilte, erreichte ich noch einen passenden Zug und kam rechtzeitig zur Christmette nach Hause. Zu Mutter und den anderen. Sicherlich hatte sie den Weihnachtsbaum wieder geschmückt wie im vergangenen Jahr. Weihnachten hat ja irgendwie auch was mit Traditionen zu tun, nicht? Die Plätzchen waren eigentlich gar nicht so hart, wie ich ständig behauptet habe. Und dann die alten Weihnachtslieder, die handgeschnitzte Krippe, der Duft im Haus, das liebevoll zubereitete Essen, der Schnee unter Mutters Schuhsohlen auf dem Weg zur Kirche.

Ihre strahlenden Augen, weil ich nach Hause gekommen war.

Ohne Traditionen ist Weihnachten einfach nur beschissen.

 


Donnerstag, 23. Dezember 2021


Der Heilige Josef

Es war einmal ein kleines Dorf, in dem eine kleine Kirche stand, die Sankt Josef hieß. Sie war recht hübsch, war erst vor ein paar Jahren renoviert worden, hatte einen gepflegten Friedhof drum herum, und wundervoll klingende Glocken, die wie ein Wunder den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten. Aber jedes Mal, wenn diese wundervollen Glocken läuteten, kamen nur ein paar alte Frauen, und ab und zu auch mal ein alter Mann oder ein Brautpaar oder ein Täufling.

Die Dorfbewohner hatten immer eine Ausrede, warum sie beim Gottesdienst fehlten. Nur in der Adventszeit kamen mehr Leute in die Kirche, und an Weihnachten wollten alle dort das Christfest feiern. Die kleine Kirche war voll bis auf den letzten Platz, dass viele sogar stehen mussten.

Jedes Jahr war das so, und der Pfarrer hatte längst aufgegeben, sich darüber zu wundern oder gar aufzuregen.

Als er eines Tages im Advent in sein Kirchlein ging, um mit dem Mesner zusammen den Adventskranz aufzuhängen und den Altar für den ersten Adventssonntag zu schmücken, fiel gerade ein Sonnenstrahl durch das Kirchenfenster auf den Heiligen Josef, dass es fast aussah, als würde er von innen heraus leuchten. Der Pfarrer ging hinüber und blieb seufzend vor der Heiligenfigur stehen.

„Ja, Josef, ab Sonntag werden die Leute wieder herkommen und am Gottesdienst teilhaben wollen. Aber nach den Heiligen Drei Königen wird es wieder sein wie immer“, sagte er. „Wenn ich nur wüsste, wie ich das ändern kann“, fügte er nach einer Weile nachdenklich hinzu und zuckte mutlos die Schultern.

Als er abends in seinem Bett lag fiel ihm wieder ein, wie schön der Heilige Josef ausgesehen hatte. Mit diesem Bild vor Augen schlief er wohl ein, denn das, was ich jetzt erzähle, kann nur ein Traum gewesen sein.

Es läutete an der Tür. Der Pfarrer stand auf, schlüpfte in seinen Morgenmantel und schaute aus dem Fenster. Es hatte zu schneien begonnen. Unten stand ein Mann.

„Ja bitte? Was wollen Sie?“, fragte der Pfarrer.

„Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?“, fragte der Mann zurück.

„Es ist mitten in der Nacht, guter Mann, Was wollen Sie denn?“ Der Pfarrer ärgerte sich darüber, dass der Mann um diese Zeit geläutet und ihn aus dem Bett geholt hatte.

Schließlich ging er doch hinunter und öffnete die Tür. Der Mann trat ein und blieb im Flur stehen.

„Entschuldigen Sie, dass ich noch so spät störe“, bat er. „Aber haben Sie vielleicht die Möglichkeit, mich und meine Frau für eine Nacht aufzunehmen? Wir waren auf dem Weg in meine Heimatstadt, um mit unseren Verwandten das Christfest zu feiern, als unser Auto den Geist aufgab. Ich habe überall nach einem Zimmer gesucht, aber alle Hotels und Gasthäuser sind belegt.“

Der Pfarrer sah den Mann erstaunt an.

„Das mag ja alles sein, aber warum haben Sie ausgerechnet bei mir geläutet, und das um diese späte Stunde?“, wollte er dann wissen. „Es brannte doch nicht einmal Licht …“

„Ich dachte mir halt, dass Sie in diesem riesigen Haus ein Zimmer hätten, in dem meine Frau und ich für diese eine Nacht bleiben können“, erklärte ihm der Mann verlegen. „Jetzt komme ich mir allerdings ziemlich dumm vor“, gestand er dann und suchte mit der Hand hinter sich die Türklinke.

Der Pfarrer schaute ihn kopfschüttelnd an. „Ideen haben die Leute manchmal“, murmelte er. „Das hier ist doch kein Hotel!“

„Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung“, bat der Mann. „Vielleicht finden wir ja doch noch eine Unterkunft …“

Mehr hörte der Pfarrer nicht, denn der Mann war schon nach draußen gegangen.

In diesem Augenblick traf ein Mondstrahl den späten Gast. Der Pfarrer erschrak, denn es sah genauso aus wie am Nachmittag, als die Sonne hinter dem Heiligen Josef in der Kirche stand, und er rief ihm nach:

„Warten Sie einen Augenblick!“

Schnell lief er zum Gartentor, durch das der Mann gerade auf die Straße getreten war und schaute hinaus. Aber die Straße war leer. Es war niemand zu sehen. Nicht einmal eine Spur im Schnee.

Vielleicht hatte er alles nur geträumt. Wahrscheinlich sogar.

Am nächsten Tag ging er in seine kleine Kirche, in der nur der Heilige Josef in seiner Nische stand und hinüber zum Altar schaute, auf dem in der Weihnachtszeit Maria mit dem Jesuskind ihren Platz hatten.

 

An Weihnachten war die Kirche wie in jedem Jahr zuvor proppenvoll. Ich weiß nicht, ob sie auch nach der Weihnachtszeit noch gut besucht war. Aber ich glaube, es hat sich einiges geändert, seitdem der Heilige Josef vergeblich um ein Quartier im Pfarrhaus gebeten hatte …


Mittwoch, 22. Dezember 2021

Tango winale

Warum wir ausgerechnet an Weihnachten geheiratet haben? Sie wollte das. Sie, mein süßer Engel. Und ich, blind vor --- vor --- ach, was weiß ich.

Hochzeitstag und Weihnachten! Können Sie sich das vorstellen?

Sie erwartete jedes Jahr, dass ich ihr tolle Geschenke mache, mir was Besonderes einfallen lasse. Weil ja Weihnachten und Hochzeitstag als Anlass förmlich danach lechzen. Hat sie gesagt. Das geht vielleicht am Anfang noch, so lange man blind ist und nicht sieht, in was sich der süße Engel im Laufe der Zeit verwandelt hat.

Anfangs klingelten bei mir noch sämtliche Glöckchen im Kopf, wenn sie mir etwas ins Ohr flüsterte. Jetzt versagten auch die tiefsten Glocken, wenn sie nur den Mund aufmachte.

Sie räkelte sich auf unserem Designersofa, während ich zur Arbeit ging, zappte sich quer durch sämtliche Nachmittags-Soaps, und plante dabei bereits ihren nächsten verbalen Frontalangriff auf mich. Diese Serien scheinen eine wahre Quelle an Möglichkeiten zu bieten, Ehemänner fertigzumachen.

Am meisten nervten mich ihre ständigen Rechthabereien. Sie gab niemals zu, wenn sie mit ihren Ansichten daneben lag, und tat bestenfalls so, als habe sie dieses und jenes niemals und wenn, dann völlig anders gesagt. Dass sie ständig links und rechts verwechselte, ärgerte mich nur, wenn sie mir beim Autofahren die Richtung falsch angab.

Irgendwann überließ ich sie ihren Irrtümern und dachte mir meinen Teil.

Warum ich das so lange ausgehalten habe?

Das fragte ich mich inzwischen auch. Denn außer ihrem ständigen Genörgel und Gekeife lief garnix zwischen uns.

Von wegen Glocken und so.

Auf das Thema Scheidung angesprochen meinte sie lapidar, da würde uns schon noch eine andere Lösung einfallen. Wir sollten jeder mal in Ruhe darüber nachdenken. Das tat ich denn auch und dachte mir etwas ganz Besonderes für unseren zehnten Hochzeitstag aus. Denn so konnte es einfach nicht weitergehen. Wenn sich jetzt nichts änderte, hatte ich keine andere Wahl als Plan B. Ideen dazu gibt es im Internet ja en masse, wie ich inzwischen wusste.

Ich hatte beschlossen, sie mit einem unvergesslichen Weihnachtsabend zu unserem zehnten Hochzeitstag zu bezaubern.

Mit Kerzenschein und Musik, die sie lieben würde.

Tango.

Ja, Tango.

Tango liebte sie.

Auch wenn sie hierbei ständig links und rechts verwechselte,  und mir auf die Zehen trat. Was sie natürlich niemals zugab. Ich war es, der ihrer Meinung nach etwas falsch gemacht hatte.

Verziehen.

Ich kaufte ihr ein hautenges Kleid, hochhackige Schuhe und ein sündteures Parfum. Wir würden eine rauschende Ballnacht verbringen, wir beide allein. Ein wertvoller Ring sollte mein ganz besonderes Geschenk für sie werden, wenn wir diese Nacht wie ein Glas köstlichen Weins bis aufs letzte Tröpfchen ausgekostet hatten.

Diamonds forever.

Der Schlüssel zum Paradies.

Die Geschenke legte, nein, drapierte ich kunstvoll über jenes Sofa, auf dem sie tagtäglich ihre Zeit verbrachte.

Als sie das Wohnzimmer betrat, riss sie überrascht die Augen auf. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Sie war völlig überwältigt, schlüpfte in ihr neues Kleid, das wie eine zweite Haut an ihrem Körper lag, und in die hochhackigen Schuhe.

Und wir tanzten diesen Tango.

Eng und leidenschaftlich, wie damals bei unserer Hochzeit.

Genau so hatte ich es mir vorgestellt. Sie wurde zusehends zum Engel in meinen Armen. Es war wie ganz am Anfang. Ich stand vor der Pforte zum Paradies.

Nachdem kurz vor Mitternacht bei den Rhythmen meines Lieblingstangos ihr rotes Kleid zu Boden glitt, roch ich das teure Parfum auf ihrer Haut und konnte kaum erwarten, ihr den Ring an den Finger zu stecken. Nicht nur in meinem Kopf läuteten sämtliche Glocken. Alles würde anders werden.

 

Alles wurde anders.

 

Sie bat mich, kurz zu warten, huschte in die Küche, wo ich sie leise hantieren hörte. Gleich darauf brachte sie zwei Becher Glühwein herein. Sie hatte darauf bestanden, dass ich eine Flasche vom Christkindlmarkt mitbrachte. Vor zehn Jahren hatten wir vor dem Standesamt Glühwein an unsere Gäste ausgeschenkt. Das war ihre Idee gewesen. Weihnachten, Hochzeit, Glühwein.

Glühwein! … nach dem sündteuren südamerikanischen Rotwein, den ich ihr den ganzen Abend über kredenzt hatte?!

Das Funkeln in ihren Augen ließ mich darüber hinwegsehen.

Einen der Becher reichte sie mir. Den anderen behielt sie in der Hand, hob ihn ein wenig in meine Richtung und führte ihn mit geschlossenen Augen an den Mund. Ich sah zu, wie sich ihre tiefrot geschminkten Lippen beinahe lüstern an den Becherrand schmiegten, und wie sie die heiße Köstlichkeit genüsslich in sich hineinsaugte.

Ich mag keinen Glühwein. Das hatte sie wohl völlig vergessen.

Als sie die Augen öffnete und sah, dass ich meinen Becher zur Seite gestellt und mit dem sündteuren Ring in der einen, einem Glas argentinischen Rotweins in der anderen Hand erwartungsvoll vor ihr stand, stieß sie einen Schrei aus, der nicht mit jener Überraschung zu erklären war, die ich erwartet hatte.

Sie starrte auf den Becher in ihrer Rechten, fuhr sich mit der Linken an den Hals.

 

Der Arzt konnte nur noch ihren Tod feststellen.

Sie hatte vermutlich wieder einmal links und rechts verwechselt.


Dienstag, 21. Dezember 2021

Ewiges Eis

Es war einen Tag vor dem Heiligen Abend. Ich war gerade damit fertig geworden, den Flur von den Spuren meines vorweihnachtlichen Tuns zu befreien, als es an der Wohnungstür klingelte.

„Ich bin’s!“

Luisa. Unsere Nachbarin. Die hatte mir gerade noch gefehlt.

Seit siebzehn Jahren Witwe und seither damit beschäftigt, jeden im Haus zu kontrollieren und - mehr oder weniger heimlich - hinter sämtlichen Männern her zu sein, die ihr über den Weg liefen. Vor allem hinter meinem: Erwin.

Ich ließ mir absichtlich einen winzigen Augenblick mehr Zeit als nötig, bevor ich ihr die Tür öffnete und warf einen prüfenden Blick auf das Resultat meiner Putzaktion. Luisas Wieselaugen entging nichts.

„Was gibt’s?“, wollte ich wissen und verstellte ihr den Weg in die Wohnung.

„Kann ich rein?“, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

„Neinnein, gerade nass aufgewischt. Nicht, dass du noch ausrutschst.“

„Aaach, da passiert schon nichts“, antwortete sie und schob mich einfach zur Seite, um wie ein Storch über den nassen Fußboden zu staksen.

Ihr Wieselaugen-Blick wanderte in alle Richtungen, bevor deren Besitzerin wie angewurzelt und mit in die Hüfte gestemmten Fäusten vor dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stehen blieb.

„Jahaahaaa“, sagte sie ehrfurchtsvoll. „So sieht ein Baum aus, wenn ihn ein Mann wie unser Erwin geschmückt hat.“

Mir blieb die Luft weg. Den hatte nicht unser Erwin …

Augenblick mal! Wie war das? Unser Erwin?

Das schlug jetzt doch dem Fass den Boden ins Gesicht.

„Deshalb bin ich da“, unterbrach sie meine gedanklichen Einwände.

„Wegen unserem Weihnachtsbaum?“, fragte ich irritiert.

„Nein, wegen meinem Weihnachtsbaum“, gab sie zurück, ohne den Blick von unserem Exemplar zu wenden. „Und wegen Erwin, um genau zu sein. Erwin ist handwerklich ja so begabt! Er muss mir unbedingt helfen, aus meinem Baum auch so ein Prachtstück zu zaubern.“

„Aber den habe doch ich …“, wagte ich jetzt doch einen Einwand.

Luisa legte beschwichtigend ihre frisch manikürte Hand auf meinen Arm.

„So schade, dass ihr zum Jahresanfang wegziehen wollt!“, sagte sie schmollend. „Der Erwin ist ja nicht so begeistert davon, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich bin gespannt, ob er überhaupt mitgeht.“

Ich wusste das besser.

„Er wird mitgehen“, sagte ich deshalb bestimmt.

„Alle hier im Haus werden ihn vermissen.“

Ja, wahrscheinlich.

Vor allem Luisa. Und genau das ist der Grund, weshalb wir hier weg wollten.

Also vor allem ich.

„Und er ist ja so belesen! Ich habe alle Bücher förmlich verschlungen, die er mir geliehen hat. Alaska! Die Antarktis! Er liebt das ewige Eis genau so wie ich. Und dieses wundervolle Puzzle mit den Eisbären draußen im Treppenhaus! Das hat er ja fantastisch hingekriegt. Dass du es nicht bei euch im Wohnzimmer aufhängst?“

Ich musste es einfach loswerden: „Es ist die Arktis.“

„Wo ist er eigentlich?“, wollte sie wissen, meinen Einwand ignorierend, und wieder huschte ihr Wieselaugen-Blick neugierig umher. „Ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen.“

„Er ist unterwegs in unsere neue Wohnung.“

„Hab schon gesehen, dass ihr den Keller bereits ausgeräumt habt. Schade, schade. Ich wollte nämlich fragen, ob ich nicht ein paar Sachen in eurer neuen Mega-Tiefkühltruhe deponieren könnte über die Feiertage. Da müsste noch Platz drin sein, sagte zumindest unser Erwin gestern. - Geht dann wohl nicht.“

„Nein, geht dann wohl nicht“, echote ich. „Sie ist außerdem tatsächlich ziemlich voll.“

Jetzt mal langsam. Unser Erwin!? Der Belesene, der handwerklich so Begabte, der Frauenschwarm, der … Pah!

Erwin, der ständig an allem Herumnörgler, der frühpensionierte Sofapupser, der Bierfahnenträger, der verfressene alte Schwerenöter, der geglaubt hat, ich wüsste nichts von ihm und dieser – dieser … Der gestern genussvoll eine Handvoll meiner frischgebackenen Plätzchen in den Mund gestopft und dabei das Sofa vollgekrümelt hat, während ich mich allein um den Weihnachtsbaum kümmerte.

„Nicht! Da sind Haselnüsse drin! Die verträgst du doch angeblich nicht“, hatte ich noch gehaucht, aber er hat ja immer genau das Gegenteil von dem gemacht, was ich ihm gesagt habe.

„Sag ihm doch bitte, er möge nach seiner Rückkehr bei mir klingeln“, flötete Luisas Stimme in meine Gedanken hinein. „Ich habe alles schon vorbereitet, er muss das Bäumchen nur noch in den Ständer stellen, es geraderücken und so hübsch dekorieren wie den hier.“

Ach so. Ja dann …

Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, hatte sie sich umgedreht und war hinausgerauscht. Dabei warf sie den Kopf zurück, und winkte mir über die Schulter hinweg zu.

„Tschühüss!“, trällerte sie dabei.

„Vorsicht!“, rief ich ihr noch nach, aber es war zu spät. Sie hatte den Putzeimer übersehen, ihn umgestoßen, war dann in der Seifenlauge ausgerutscht und durch die offene Wohnungstür ins Treppenhaus geschliddert. Ich stand wie vom Donner gerührt und sah zu, wie sie, wild mit den Armen herumfuchtelnd, auf dem frisch geputzten Vorplatzboden vorbei an Erwins Eismeer-Riesenposter entlangglitschte, direkt auf die oberste Stufe zu.

 

*

 

„Wo ist eigentlich Ihr Mann?“, wollte meine Vermieterin wissen, als sie mich Anfang des darauffolgenden Jahres in meiner neuen Wohnung besuchte. „Warum ist er denn nicht mit hierhergezogen?“

„Er ist seit Weihnachten mit unserer ehemaligen Nachbarin zusammen“, antwortete ich gelassen. „Mögen sie glücklich sein miteinander.“

Inzwischen konnte ich das. Es hat nämlich ein bisschen Unruhe gegeben bei uns im Haus, als herauskam, dass die beiden, also Luisa und ‚unser Erwin‘, ausgerechnet am Tag vor dem Heiligen Abend auf Nimmerwiedersehen abgehauen sind. Man hatte ja schon lange darüber getuschelt, dass da was lief zwischen der Witwe und dem Erwin.

Unserem Erwin.

Aber ausgerechnet am Tag vor dem Heiligen Abend abhauen? So etwas tut man einfach nicht.

Ich lud meine Vermieterin auf ein Glas Begrüßungsrotwein ein, und setzte mich mit ihr ins Wohnzimmer.

„Haben Sie das Puzzle gemacht? Die Arktis, nicht wahr?“

Sie zeigte auf das Riesending an der Wand mit dem ewigen Eis und der Eisbärenmutter mit ihren beiden Jungen.

„Ganz genau, das ist die Arktis. Und nein, das hat mein Mann gemacht und dabei immer wieder gesagt: Einmal das ewige Eis sehen und dann sterben. Ich habe es aus einer Art nostalgischer Anwandlung heraus mitgenommen.“

„Apropos ewiges Eis“, sagte meine Vermieterin und hob ihr Glas in meine Richtung. „Sie haben ja ein wahres Tiefkühltruhenmonster im Keller stehen! Ist das nicht ein bisschen zu groß für eine alleinstehende Frau?“

 


Montag, 20. Dezember 2021

Rauschgoldengel fluchen nicht

Meine Schwester und ich waren wie in den Jahren zuvor angewiesen worden, sich der Weihnachtszeit entsprechend zu verhalten. Was bedeutete: Wir sollten uns unsichtbar machen und nur auf den Plan treten, wenn wir gerufen wurden. Das lief hervorragend, so lange wir vormittags die Schule besuchten. Ab dann mussten wir schwer aufpassen, was wir sagten und taten.

Dabei hatten wir unserer Meinung nach eigentlich nie irgend etwas getan, das nicht ‚der Weihnachtszeit entsprochen‘ hätte. Ich meine, WIR haben keinen handgebundenen Tannenbaum gekauft, der mit seinen einssechzig sämtliche Gräber auf dem Friedhof übertroffen und ein Vermögen gekostet hat, was uns am Heiligen Abend wiederum Bratwürstchen mit Sauerkraut anstatt der sonst üblichen Weihnachtsgans bescherte.

WIR haben auch keinen Tannenbaum gekauft, der bei der Verlesung der Weihnachtsgeschichte unserem Vater über das wohlfrisierte Resthaar nadelte.

WIR haben weder das Essen am heiligsten aller Mittage anbrennen lassen, noch etwas Verwerfliches darin gesehen, als wir die Reste der Weihnachtsgans im Bad aufaßen, nachdem wir – des Wohnzimmers wegen anhaltenden Gekicheres strafverwiesen – das gesamte Geschirr abgewaschen hatten. Immerhin fanden wir: an Weihnachten wird ein Geburtstag gefeiert. Für besinnliches Herumsitzen wäre Karfreitag besser geeignet.

Am Heiligen Abend des vergangenen Jahres hatten wir ja dann alle miteinander die restlichen Bratwürstchen im Bad verspeist, wo es gemütlicher war als auf dem Klo, wie Großvater glaubhaft versicherte.

Die Adventszeit in diesem Jahr verlief denn auch ganz im Sinne unserer Eltern. Wir gaben keinen Anlass zu irgendwelchen Beschwerden ihrerseits.

Unsere Mutter nun hatte heimlich beschlossen, uns mit etwas ganz Besonderem zu überraschen: Sie hatte über ihren Turnverein zwei Weihnachtsengel bestellt, die am Heiligen Abend bei uns hereinschneien und den Abend ein bisschen besinnlich gestalten sollten. In der Garage hatte sie einen Korb mit Geschenken deponiert, den die beiden Rauschgolds mit ins Haus nehmen und dessen Inhalt sie an uns verteilen sollten.

Wir saßen also am Heiligen Abend nach dem Essen im Wohnzimmer und verbreiteten ein wenig besinnliche Stimmung damit, dass meine Schwester zum lange geübten Spiel auf ihrer Gitarre einige Weihnachtslieder sang, in die die Erwachsenen selig einstimmten. Ich erhaschte die Blicke meiner Mutter, die mir sagten, dass ich mir doch ein Beispiel an Schwesterchen nehmen könne, die sich mit Spiel und Gesang brav dem Largo des elterlichen und großelterlichen Gesangs anpasste. Im Gegensatz zu mir, die ich mir einmal angemaßt hatte, selbige am Klavier etwas flotter zu begleiten.

Dann klingelte es an der Tür.

Mutter stand mit bedeutungsschwangerem Blick auf, und wir schauten ihr relativ verdutzt nach. Wer um alles in der Welt wagte es, unsere Besinnlichkeit um diese Zeit zu stören?

Zu unser aller Überraschung folgten meiner Mutter wenige Minuten später zwei in flauschiges Weiß gekleidete Gestalten, die ihre Häupter mit Schleiern verhüllt und mit goldenen Reifen um die Stirn geschmückt hatten. Kleine güldene Flügel auf Höhe der Schulterblätter entlarvten sie denn auch sofort als Himmelsboten.

Mutter stand selig lächelnd neben den beiden Rauschgoldengeln und verkündete, dass sie soeben hier vorbeigekommen wären und ihre Geschenke bei uns abgeben wollten.

Jaaa. Wollten.

Meine Schwester und ich hatten uns – Ehrfurcht heuchelnd – vor die beiden auf den Fußboden gesetzt, und auf diese Weise einen Blick unter die gesichtsverhüllenden Schleier werfen können. Von wegen Engel! Aber dazu gleich mehr.

Jedenfalls schien den beiden himmlischen Boten in diesem Augenblick einzufallen, was ihre eigentliche Aufgabe gewesen wäre, wenn sie nicht zuvor bereits in mindestens zwei oder drei anderen Haushalten einen ähnlich gearteten Auftritt gehabt hätten. Wo man sie reichlich mit Glühwein gegen die Kälte des Abends versorgt haben musste. Sie hatten vermutlich diesem geschuldet vergessen, den Geschenkekorb aus der Garage mitzubringen.

Ohne ein Wort zu sagen, rauschte einer der beiden Engel hinfort, um das Versäumte nachzuholen. Wir saßen abwartend da, während die Erwachsenen auf Mutters Wink hin begannen, erneut ein Weihnachtslied anzustimmen.

Bereits zum Ende der dritten Strophe von ‚Vom Himmel hoch‘ kam Engel Nummer eins zurück, sich mit einem Korb abschleppend. Weit kam er nicht, denn Mutter winkte ihn forsch wieder hinaus. Das war nicht der Korb mit den Geschenken, das war der mit dem Zeug, das sie für den Sperrmüll bereitgestellt hatte.

Also rauschte sie dieses Mal gemeinsam mit dem Engel nach draußen, während Engel Nummer zwei – wir konnten das unter dem Schleier hindurch sehen – leise vor sich hin lachte.

Der war uns sofort sympathisch.

Als Mutter und Engel Nummer eins mit dem richtigen Korb zurückkamen, löste sich die etwas irritierte Stimmung in unserem Wohnzimmer, und die beiden Weißgewandeten begannen, die Geschenke zu verteilen.

Besser gesagt: Sie haben sich sehr bemüht.

Allerdings ist so eine Aktion ausgesprochen schwierig, wenn man einerseits einen ungewohnten Tüllschleier, andererseits dazu hin noch einen anderweitig verursachten solchenwelchen vor Augen – bzw. vor der Nase hat.

Ich hörte Nummer zwei schon beim dritten Päckchen leise Unheiliges von sich geben. Beim vierten hörten es alle: Der Rauschgoldengel fluchte laut und deutlich vor sich hin. Seine Stimme klang dabei absolut nicht nach einem holden, androgynen himmlischen Wesen, sondern nach einem Kerl, der an diesem Abend definitiv mehr als drei Familien flügel- und stirnreifgeschmückt Geschenke überreicht hatte und jetzt reichlich genervt war.

Kurzum, Mutter packte die beiden nach dem fünften missglückten Anlauf an den Armen, schob sie zur Tür hinaus und ließ sie, wie sie später berichtete, draußen laufen, nachdem sie ihnen zähneknirschend den vereinbarten Himmelslohn überreicht hatte.

Was soll ich sagen?

Der weitere Abend verlief sehr fröhlich und ganz im Sinne von mir und meiner Schwester. Jeder hatte die Situation auf andere Weise wahrgenommen, und gab sie lachend zum Besten.

„Rauschgoldengel fluchen nicht“, stellte Großvater nachdrücklich fest, als wir uns, traditionsgemäß, wenig später im Bad wiederfanden und auf dem Wannenrand sitzend die Reste des Abendessens verputzten.

„Ach“, fiel da meinem Vater plötzlich an Großvater gewandt ein. „Was ich dich fragen wollte: Was eigentlich hat der Rauschgoldengel gemeint, der auf unseren Weihnachtsbaum deutete und sagte, darüber reden wir noch?“

Großvater verschluckte sich an seinem Glühwein und winkte entschieden ab, als ihm Mutter auf den Rücken klopfen wollte, während meine Schwester und ich uns heimlich wissende Blicke zuwarfen.

In diesem Jahr hatte Großvater den Baum besorgt, damit er nicht schon am Heiligen Abend beim Lesen der Weihnachtsgeschichte in Vaters Nacken nadelte.

Wir haben nie jemandem verraten, dass wir ihn dabei beobachtet hatten, wie er eine kleine Axt unter seiner Jacke verschwinden ließ, bevor er mit seinem Moped zum ‚Christbaumkauf‘ aufbrach, und dass ich in einem der beiden Rauschgoldengel just den jungen Mann wiedererkannt habe, der sich zwei Tage zuvor in einem Zeitungsinterview darüber aufgeregt hatte, dass aus dem Garten seiner Großeltern am hell-lichten Tag! eine Blautanne verschwunden war.

 


Sonntag, 19. Dezember 2021

Besinnliche Weihnachten, allerseits!

Meine Schwester und ich waren am Heiligen Abend des vergangenen Jahres unangenehm aufgefallen, weil wir uns weigerten, das von unseren Eltern alljährlich verordnete ‚besinnliche Weihnachten‘ artig mitzugestalten. Wir fanden, Weihnachten sei ein Geburtstag und gehöre entsprechend gefeiert. Traurig rumsitzen könne man an Karfreitag, und da sei noch lange hin.

Man verbannte uns schließlich vom Wohnzimmer in die Küche, wo es Berge von Geschirr abzuspülen galt. Eine Spülmaschine hatten wir damals noch nicht. Also zogen wir uns kichernd und im festen Glauben daran zurück, mit unserer Einstellung richtig zu liegen, erledigten den Abwasch, und nahmen irgendwann die Gänse-Reste mit ins Bad, um sie dort zu verspeisen. Wir wollten nicht gestört werden. Als Mutter uns aufspürte, war es vollends vorbei mit der Besinnlichkeit.

All das nun führte dazu, dass man uns in diesem Jahr bereits in der Zeit vor dem Ersten Advent ermahnte, es doch etwas der Zeit angemessen anzugehen. Heißt: besinnlich bis sehr besinnlich. Vor allem mit Rücksicht auf Großvater, der sich immer schmollend mit er Zeitung aufs Klo zurückzog, wenn es ihm zu unbesinnlich wurde. Sagte unsere Mutter jedenfalls. Alles so gar nicht unser Ding. Aber wir waren gewillt, nicht aufzufallen und hielten uns dezent zurück. So weit es eben ging.

Wie weit es ging, werden Sie gleich selber sehen.

Zunächst einmal hatte unsere Mutter beschlossen, von einem Floristen einen dieser wunderschönen kleinen Weihnachtsbäume binden zu lassen, mit denen man, kerzchenbestückt und mit künstlichem Schnee besprüht, Familiengräber weihnachtlich dekorieren konnte. In diesem Fall das Grab der Großeltern mütterlicherseits.

Sie zeigte dem Floristen ihres Vertrauens, wie hoch das Bäumchen werden sollte und bat ihn, es zum Ersten Advent auf das Grab zu stellen.

Zweierlei überraschte sie an diesem Adventssonntag.

Erstens der Anblick jenes Prachtexemplars, das alle Grabsteine überragte und von seinen Ausmaßen her nichts mehr mit einem ‚Bäumchen‘ zu tun hatte. Umringt wurde das sozusagen aus der Reihe fallende Grab von einer Traube Friedhofsbesucher, deren Getuschel schlagartig aufhörte, als man unserer Mutter ansichtig wurde.

Meine Schwester und ich hatten mit müssen, weil sie uns nicht allein zu Hause lassen wollte, wo wir bestimmt nur wieder Blödsinn machen würden. Jetzt war ihr das offensichtlich auch wieder nicht recht, weil wir in kaum verhohlener Freude zusahen, wie sich die schwarz gekleidete Meute mit vielsagenden Blicken umwandte und zwischen den übrigen Gräbern verschwand.

Zweitens war da der Preis, der für diese floristisch untadelig ausgeführte Arbeit auf der Rechnung stand, die einen Tag später in unserem Briefkasten lag. Nachdem sich unsere Mutter einigermaßen von dem erlittenen Schock erholt hatte, marschierte sie kurzerhand zu ihrem Floristen und bat um Aufklärung. Der fühlte sich völlig unschuldig. Meine Mutter hatte ihm über dem Ladentisch die Höhe des Bäumchens mit der Hand angezeigt. Wohl so um die 30, 40 cm. Der sich unschuldig Wähnende hatte den Ladentisch mit etwas mehr als siebzig Zentimetern dazugerechnet …

Da wir auch in diesem Fall wieder mit mussten, bekamen wir die Weigerung des Unschuldigen mit, auch nur einen Pfennig von seiner Rechnung runterzugehen. Schließlich habe er eine klare Order bekommen und sauber ausgeführt. Nächstes Mal möge sie halt nicht mit der Hand herumfuchteln, sondern das gewünschte Maß in Zentimetern angeben.

Tja.

Wir erfuhren noch am selben Tag, dass die Weihnachtsgans dieses Jahr gestrichen wurde – und das mit einem unmissverständlichen Blick auf meine Schwester und mich. Uns war natürlich sofort klar, dass die Kürzung des Weihnachtsessen-Etats nichts mit uns und den unerlaubt verspeisten Gänseresten vom vergangenen Jahr, sondern mit dem Christbäumchen auf dem Friedhof zu tun hatte. Vielleicht, so dachten sich unsere Eltern vermutlich, würden wir ein schlechtes Gewissen bekommen und uns wunschgemäß besinnlich verhalten. Erwachsene denken manchmal sehr um die Kurve, fand ich. Nun ja. Es würde also keine Gans, sondern Wiener und Sauerkraut am Heiligen Abend geben, erfuhr die Familie. Was wir beide sofort erkannten war: Die Würstchen wurden abgezählt. Also kein noch so fröhliches im-Bad-Nachspeisen wie im vergangenen Jahr.

Aufgrund des Desasters mit dem Friedhofsbäumchen beschloss unser Vater, den Weihnachtsbaum selber zu besorgen. Unsere Mutter fügte sich kommentarlos in diese Entscheidung und kümmerte sich in der Folge lieber um Dinge, die kaum was bis gar nichts kosteten. Küche grundreinigen beispielsweise. Eine Beschäftigung, an der sie uns selbstverständlich beteiligte. Um uns nicht aus den Augen zu verlieren, wie sie behauptete.

Schlau, wie unser Vater sich wähnte, kaufte er den Baum am 23. Dezember und bekam ihn auch recht günstig, wie er stolz verkündete. Unsere Mutter hatte die Bäume bislang immer frühzeitig gekauft, um ja einen der schönsten zu ergattern. Waren halt ein bisschen teurer. Vater nahm den seinen noch zusammengeschnürt mit in unser Wohnzimmer, das wir ab sofort nicht mehr betreten durften. Dort machte er sich eigenhändig daran, ihn zu schmücken. Unsere Mutter war damit beschäftigt, das Mittagessen zuzubereiten. Es sollte Reis mit Huhn geben. Uns hatte sie aus der Küche verscheucht mit dem Auftrag, unser Zimmer picobello aufzuräumen und sie ja in Ruhe zu lassen. Es sei abzusehen, dass wir irgendwas anstellten, was sie in dieser ohnehin stressigen Zeit nicht die Bohne vertragen könne.

Irgendwann rief unser Vater nach ihr: Die Aufhänger für seine Christbaumkugeln reichten nicht, ob sie nicht eben welche im Laden um die Ecke besorgen könne. Sie konnte und ermahnte uns, unbedingt auf unserem Zimmer zu bleiben und uns darauf zu besinnen, in welcher Zeit wir uns befanden. Auch mit Rücksicht auf Großvater, der sich nun mal Besinnlichkeit wünsche.

Den Braten – beziehungsweise den Reis – rochen wir kurz bevor sie zurückkam. Er war angebrannt, und samt Topf zu nichts mehr zu gebrauchen. Nicht davon zu reden, wie Küche und Flur nach Angebranntem stanken, und dass es ein paar unbesinnliche Worte gab. Allerdings nicht von meiner Schwester und mir. Wir konnten uns ein verhaltenes Lachen nicht verkneifen und zogen uns schleunigst auf unser Zimmer zurück, bevor man uns dort hinbeorderte.

Unsere Mutter kümmerte sich grummelnd um die verrauchte Küche, unser Vater um seinen Baum, und wir harrten der Dinge, die am Heiligen Abend auf uns zukommen sollten.

Es gab, wie angekündigt, Wiener und Kraut zum Abendessen. Mutter hatte noch Brötchen dazu gekauft, die es wirklich nur an Feiertagen gab – alles perfekt. Dieses Jahr hatten wir schon eine Spülmaschine, was uns beiden, also meiner Schwester und mir, den Abwasch ersparte. Das mit dem Klavierspiel zu besinnlichem Zwecke verkniff ich mir mit der Begründung, das Instrument müsse seit Monaten gestimmt werden, und so könne ich keine Weihnachtsmusik machen. Also wurde ohne Klavierbegleitung gesungen. Oh du fröhliche …

Ich hatte mich angeboten, ersatzweise für die ausgefallene Klavierbegleitung die Weihnachtsgeschichte vorzulesen, aber unser Vater bestand darauf, das selber zu tun. Man könne meiner Leserei einfach nicht zuhören, was vermutlich die Besinnlichkeit zunichte machen würde. Also setzte er sich mit feierlicher Miene in seinen Sessel vor dem Baum.

Ach ja, der Baum. Das war wirklich ein Prachtexemplar an Fehlwuchs und schien seine beste Zeit bereits vor Wochen hinter sich gelassen zu haben. Was zusammengenommen seinen äußerst günstigen Preis absolut rechtfertigte. Niemand wagte, sich dazu zu äußern. Die Großeltern waren damit beschäftigt, ein feierliches Gesicht zu machen. Großvater hatte bereits die Tageszeitung auf den Knien liegen wie jeden Abend nach dem Essen. Bei einem Seitenblick auf unsere Mutter meinte ich Tränen in ihren Augen zu sehen. Allerdings ließ mich ihr bewegter Gesichtsausdruck darauf schließen: Es waren Tränen der Rührung.

Wie nun unser Vater dasaß, die Bibel an der markierten Stelle aufschlug, um das Lukas-Evangelium mit der Botschaft zur Geburt des Herrn zu verkünden, schauten meine Schwester und ich andächtig den Baum hinter ihm an. Beziehungsweise: Wir waren ernsthaft bemüht, die feierliche Stimmung nicht zu stören. Nach dem ‚Und es begab sich aber ...‘ hatte ich jedoch plötzlich das Gefühl, das Wohnzimmer schwanke. Erschrocken schaute ich auf unseren Vater, der jedoch unbekümmert weiterlas. Es war allerdings auch nicht das Wohnzimmer, das sich bewegte, sondern der Baum. Er kippte ganz langsam nach vorne. Nur von meiner Schwester und mir beobachtet, da unsere Mutter und die Großeltern väterlicherseits andächtig auf ihre gefalteten Hände schauten. Unser Vater dürfte zuerst das leise Rieseln auf seinen breiten Scheitel bemerkt haben, was er allerdings ignorierte und davon unbeeindruckt weiterlas. Auch das silbern glitzernde Sternchen, das auf sein Resthaar gefallen war, schien ihn nicht zu stören. Aber dann kam der ganze Nadelsegen mitsamt dem Baum in beeindruckender Langsamkeit auf ihn herunter – zum Glück glänzen seit Jahren elektrische Kerzen an unseren Weihnachtsbäumen – und hüllten ihn und seinen Sessel beinahe vollständig ein.

Jetzt war es vorbei mit unserer Beherrschung. Meine Schwester und ich brachen in schallendes Gelächter aus, und wir verzogen uns vorsichtshalber in die Küche.

Ich weiß nicht, was sich im Wohnzimmer noch tat, nachdem wir es verlassen hatten. Ich weiß nur, dass wir das zweite fröhliche Weihnachtsfest in Folge kurz darauf im Bad verbrachten. Unter uns: Es waren noch Würstchen übrig geblieben, die wir, wie im vergangenen Jahr die Gans, im Bad zu verspeisen gedachten. Nicht, dass wir noch hungrig waren. Neiiiin. Traditionen sind dazu da, gepflegt zu werden, nicht?

Allerdings taten wir das nicht ungestört. Denn kaum, dass wir auf dem Wannenrand saßen und uns prustend und lachend gegenseitig die Schicksalsschläge dieser Weihnachtszeit immer wieder vor Augen hielten, tröpfelten nach und nach die anderen Familienmitglieder herein. Unser Vater hatte noch Tannennadeln im Haar, das Sternchen zierte sein linkes Ohr, und auch sonst sah er irgendwie aus wie ein Waldschrat. Unsere Mutter brachte Glühwein und die Großmutter eine Schale ihrer selbst gebackenen Plätzchen mit. So saßen wir zu fünft auf dem Wannenrand, als Großvater hereinkam und verkündete, hier drin sei es deutlich gemütlicher als auf dem kalten Klo. Ihm seien fröhliche Weihnachten im Bad ohnehin lieber als der ganze Besinnungsscheiß im Wohnzimmer.

Fanden wir auch ... Also meine Schwester und ich.

 


Samstag, 18. Dezember 2021

Leise

wurde über Nacht

Winter.     

Lautlos      

fallen weiße Sterne

auf die müde gewordenen

Farben des vergangenen Herbstes.

Die Luft flirrt über

dem erstarrten See.

Schritte zerschneiden

knirschend die eisige Stille.

Die Sterne am Himmel

funkeln mit dem

kalten Glitzern

auf Dächern und Bäumen

um die Wette.

Die Nacht lässt den Tag

kaum erwachen.

 

Und mittendrin

eine brennende Kerze,

ein warmer Lichtschein,

der uns hoffen lässt.